Die Lower East Side war einst der verruchteste Stadtteil Manhattans, heute ist sie ein Treffpunkt der Kreativen. Trotzdem trauern manche Einwohner vergangenen Zeiten nach: Die Mietpreise steigen ins Astronomische -- und die Seele des Viertels geht verloren.
Paradies oder Hölle. Jared Singer sieht sich an der Pforte und weiß nicht, was ihn erwartet. “Wenn du jemanden liebst, dann schicke ihn nach New York: Denn es ist das Paradies.” Er grinst schief und schaltet um: “Und wenn du jemanden hasst, dann schicke ihn nach New York: Denn es ist die Hölle.
Paradies oder Hölle, Ruhm oder Hohn. Singer kauert im “Bowery Poetry Club” auf einem Barhocker, die weichen Unterarme wie festgeklebt auf dem Tresen. Boxernase und Zottelbart, Angstschweiß und ein Batman-T-Shirt in XXL, das sich über dem runden Körper spannt: Wie ein Dichter sieht Jared Singer, 25 Jahre alt, nicht aus.
Doch Poetry Slam ist ein Wettkampf der Dichter: Es ist von Liebe die Rede, von Verzweiflung. Das Publikum zeigt sich ungeduldig an diesem Abend. Auf der Bühne liest eine Israelin, eine Hand in der Hosentasche vergraben, ihre Lebensgeschichte von ihrem iPhone ab. “Die Mieten sind so teuer”, greint sie, “und ich vermisse meine Jugend!” Sie ist 28. Als sie von der Bühne schleicht, tröpfelt der Applaus spärlich wie der Regen auf der Straße, wohin sich die Raucher verzogen haben.
“Das ist wahre Liebe!”
Jared Singer starrt angestrengt in sein Bier und blättert in Gedanken sein Archiv nach einem brauchbaren Gedicht durch. Singer würde niemals ablesen, er schreibt ja nicht einmal auf: 90 eigene Gedichte hat er im Kopf; sein Œuvre. Seine Festplatte. Fällt ihm morgen ein Ziegelstein darauf, sind Jared Singers Gedichte für immer verloren. Schließlich erhebt er sich und schlendert mit schwingenden Armen auf die Bühne; bereits als er Luft holt, wird es still im Raum. “Der letzte Liebesbrief eines Insektenforschers”, rezitiert Singer ernst; die ersten beginnen zu kichern.
Die zehn Stuhlreihen im dunklen Saal sind dicht besetzt, wie jeden Dienstagabend zum Poetry Slam. Die Stammgäste stehen an der Theke, halten sich an ihren Wodka Tonics fest. Sie entscheiden über Ruhm oder Hohn, Paradies oder Hölle: Wer viel redet, aber nichts zu sagen hat, den bestrafen sie mit eisernem Schweigen; wer sich jedoch in Rage redet, den Saal zum Schwingen bringt, den heben sie mit aufmunternden Zwischenrufen höher; “Whoa!”, “Yes!”, “Say it!” Wer aus dem Takt kommt, plötzlich vor einem dunklen Loch der Stille steht, dem bauen sie mit rhythmischem Fingerschnipsen gemeinsam eine Brücke.
Jared Singer braucht keine Hilfe, nach zwei Minuten hat er den Saal im Griff. Genüsslich lässt er seinen Insektenforscher beschreiben, wie sich das Männchen der Gottesanbeterin nach der Paarung auf den Rücken legt, um sich vom Weibchen verspeisen zu lassen. “Das ist wahre Liebe!”, ruft Singer entzückt, und das Publikum johlt. Am Ende geht er mit 26 Punkten von der Bühne und wird später mit zwei weiteren Gedichten sogar der Sieger des Abends.